Projektbeschreibung
Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Praxisforschungsprojekt setzt am sozialen Problem der Gewalt in Paarbeziehungen an. Die seit 2015 jährlich vorgelegte kriminalstatistische Auswertung des BKA zu Partnerschaftsgewalt verdeutlicht, dass hiervon weit überwiegend Frauen betroffen sind: In 2020 wies die Statistik aus, dass alle zweieinhalb Tage eine Frau durch den (Ex-)Partner getötet wird und durchschnittliche jede Stunde 13 Frauen Opfer von Beziehungsgewalt werden (BKA 2021). Dunkelfeldstudien belegen noch weit höhere Fallzahlen (FRA 2014). Denn die Betroffenen verschweigen aus Angst und Scham die häufig über Jahre erlittenen Gewalthandlungen, während Partnerschaftsgewalt gesellschaftlich weiterhin häufig bagatellisiert oder gar verleugnet wird.
Aufgrund der noch höheren Tabuisierung von Partnerschaftsgewalt im ländlich geprägten Raum gelangen auch hier fehlende Prävention, aber auch die nicht ausreichenden Schutz- und Beratungsstellen bislang kaum in den Fokus der Aufmerksamkeit. Jedoch hat Partnerschaftsgewalt gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen sowie auf deren familiäre und soziale Beziehungen: Physische, psychische und/oder sexuelle Partnerschaftsgewalt führt zu einem langwährenden Verlust an Lebensqualität für alle Beteiligten. Internationale Studien beziffern zudem die hohen ökonomischen Kosten von Gewalt in der Paarbeziehung für die Gesellschaft: Für die Bundesrepublik werden die direkten Kosten, etwa bei Polizei, Justiz, Sozialer Arbeit und im Gesundheitswesen, auf jährlich 3,8 Milliarden Euro geschätzt.
Entsprechend der von der Bundesrepublik 2018 ratifizierten „Istanbul Konvention“ (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt) bilden primärpräventive, d.h. bewusstseinsbildende Ansätze, welche die breite Öffentlichkeit adressieren, auch im ländlichen Raum einen zentralen Baustein. Denn ein wichtiger Ansatzpunkt, um Betroffenen und ihren Angehörigen zu helfen, ist es, der Tabuisierung und Verharmlosung der Problematik entgegenzuwirken, indem möglichst viele Menschen aller Altersgruppen angesprochen und motiviert werden, sich damit auseinanderzusetzen und die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, die vielfach um Gewalt in der Paarbeziehung gerade in einer überschaubaren Gemeinschaft mit geringerer Anonymität gebildet wird. Daher gilt es, über Formen und Folgen von Partnerschaftsgewalt, das professionelle Hilfesystem und die bestehenden Unterstützungsmöglichkeiten der Betroffenen durch Freund;innen, Angehörige oder Nachbarn aufzuklären, damit eine Einstellungs- und Verhaltensänderung der Bevölkerung angestoßen werden kann.
Das interdisziplinär arbeitende Projekt AusWege – Sozial(arbeits)wissenschaft, Informatik/Mediendesign und Medienpädagogik – knüpft an die eingegangenen Verpflichtungen der „Istanbul-Konvention“ an und verfolgt das Ziel, innovative Wege der Primärprävention von Gewalt in der Paarbeziehung für die ländlich geprägte Modellregion des Rheingau-Taunus-Kreises in enger Kooperation mit vier Praxispartner:innen – zwei davon aus der Modellregion – zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren. Auch im Rheingau-Taunus-Kreis verzeichnet die polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2020 die Zahl von 207 Taten der Partnerschaftsgewalt. Dessen gewärtig, sucht das Projekt nach Ansätzen und Methoden, die „Herz und Verstand der Menschen“ im Landkreis erreichen und sie motivieren und befähigen, Partnerschaftsgewalt zu erkennen, sich gegen sie auszusprechen und die Betroffenen – aus der Nachbarschaft, aus dem Freundes- und Kollegenkreis oder aus der Verwandtschaft – nach Kräften zu unterstützen.
Die verfolgten innovativen Ansätze umfassen:
- Eine zwischen 2021 bis 2024 ausgerollte, multimediale und differenzsensible Öffentlichkeitskampagne mit dem Titel „Partnerschaftsgewalt geht alle an!“ unter Schirmherrschaft des Landrats Frank Kilian. Hierfür werden u.a. gemeinsam mit den Praxisparter:innen Aktionstage mit interaktiven Info-Ständen an Terminen wie dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, Filmreihen, Podiumsdiskussionen, Theateraufführungen, Ausstellungen und Lesungen an verschiedenen Orten des Kreises veranstaltet und mit Hilfe von Fragebögen evaluiert. Eine „Zukunftswerkstatt“ schließt die mehrjährige Öffentlichkeitskampagne ab.
- Die Entwicklung und Erprobung von zwei prosozialen, interaktiven digitalen Spielen, sogenannten Serious Games, die im Sinne von „Edutainment“ jeweils Jugendliche bzw. Erwachsene auf spielerische Weise für die Problematik sensibilisieren, Wissen zu Gewalt in Paarbeziehungen vermitteln und sie aktivieren sollen, sich an die Seite der Betroffenen zu stellen. Die digitalen Spiele werden im Landkreis von den Zielgruppen, eingebettet in sozialpädagogisch gestaltete Projekttage an Schulen sowie im Rahmen von organisierten Qualifizierungen von ehrenamtlichen „Lots:innen“ erprobt und evaluiert - eine Qualifizierung, die im Vorgängerprojekt HIGPAe (Niederschwellige Hilfeansätze bei Gewalt in Paarbeziehungen älterer Frauen und Männer) entwickelt und durchgeführt wurde.
Im Zusammenspiel versuchen beide Ansätze der breiten Öffentlichkeit im Landkreis bewusst zu machen, dass Partnerschaftsgewalt keine Privatsache ist, die Betroffenen auf ein aktives und unterstützendes Gemeinwesen angewiesen sind und auch für Unterstützer:innen von Betroffenen professionelle Angebote der Information und Hilfe bestehen, um handlungsfähig zu werden und dazu beizutragen, diese Gewalt zu stoppen.
BKA (Bundeskriminalamt) (2021) Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung, Berichtsjahr 2020.
BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (Hrsg.) (2019): Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 (Istanbul-Konvention). 1. Auflage, März 2019, Berlin.
FRA (European Union Agency for Fundamental Rights) (2014): Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick.
Merkle, Angela/Peters, Franziska (2019): Gewalt in Paarbeziehungen älterer Frauen und Männer (60+) erkennen - benennen – lotsen. Manual für die Qualifizierung von ehrenamtlichen Lots*innen. Mit Curriculum und Arbeitsmaterialien. Wiesbaden.
Projektförderung
Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF): Programm FH Sozial 2018 „Verbesserung der Lebensqualität in Stadt und Land durch soziale Innovation“
Projektförderung
01.08.2020 – 31.12.2024